Psychosoziale Betreuung
Kognitive Defizite, Krankheiten und Psychodynamiken werden berücksichtigt. Konkrete Konflikte, Belastungen, Verluste oder Verhaltensauffälligkeiten werden bearbeitet. AusbildungskandidatInnen zu Klinischen und GesundheitspsychologInnen arbeiten als Co-TherapeutInnen in der psychosozialen Betreuung mit.
Verantwortlich leben, erzählt von Michael Mattersberger
Wie viele Menschen diese Ver-Antwortung leben ist mir erst jetzt, seit dieser Zeit bewusst. Über den Zusammenhalt im eigenen Verein durch unsere MitarbeiterInnen, aber auch Angehörige, PatientInnen und SystempartnerInnen, welche durch ihren Rückhalt die Existenz unseres Vereins, der Gesundheitsschmiede Tirol, gesichert haben. Ihnen allen möchte ich auf diesem Wege nochmals meinen herzlichen Dank ausdrücken.
So waren auch in vielen Gesprächen mit PflegerInnen der Wohnheime und mit MitarbeiterInnen unseres psychosozialen Dienstes diese Ver-Antwortung und die Krise herauszuhören. In meinem Beruf als Psychologe und Supervisor bin ich in supervisorischer Tätigkeit in vielen Pflegeheimen herumgekommen und war damit viel mit Teams im Gespräch und in Reflexion dieser besonderen Zeit. Die persönlichen Lebensgeschichten und die Einschränkungen, die viele MitarbeiterInnen der Pflege für den Schutz ihrer Pflegebedürftigen, ihrer BewohnerInnen und PatientInnen auf sich genommen haben, waren für mich sehr beeindruckend. Beeindruckend auch, wie vorbildhaft einzelne ihren Beruf und ihre Berufung in dieser Situation gelebt haben.
So waren einige Mütter eineinhalb oder zwei Monate nicht mehr bei ihren erwachsenen Kindern und zwar nicht aus Angst selbst am Virus zu erkranken – nein, weil sie ihre pflegebedürftigen HeimbewohnerInnen dadurch schützen wollten. Andere MitarbeiterInnen verließen kaum mehr das Haus, gingen nur nach Hause um zu essen und dann wieder zur Arbeit. Das alles, um wirklich nicht in Kontakt mit dem Virus zu kommen und es in das Wohnheim einzuschleppen. Es ging sogar so weit, dass sich einzelne MitarbeiterInnen überlegten, sich innerhalb ihrer Familie in einen eigenen Raum zurück zu ziehen, um wirklich jeden Kontakt und damit jede Ansteckungsgefahr zu vermeiden.
Beeindruckend wie weit das Bemühen um den Schutz ihrer Pflegebefohlenen ging, sodass sämtliche persönlichen Einschränkungen und Belastungen auf sich genommen wurden um die isolierten PatientInnen und BewohnerInnen der Wohnheime über die Krise zu retten. Es ist uns und den wenigsten in der Gesellschaft bewusst wie weitreichend dieser Beruf und diese Berufung in den Alltag hineinwirkt, wie verantwortlich viele MitarbeiterInnen der Pflege diesen Beruf leben und wie viel Liebe für diese Aufgabe und für die BewohnerInnen und PatientInnen besteht.
Ich bin dankbar, dass ich das hören durfte. Ich bin dankbar, durch diese Krise diese Sicht auf die Pflege bekommen zu haben. Diese Grundwerte zum Beruf werden im Alltag leider oft von Arbeitsbelastungen und organisatorischen Tätigkeiten verdeckt. Vielleicht ist es gut, dass wir in den Gesundheitsberufen immer wieder in Kontakt mit diesen Grundwerten der Begleitung und Pflege von PatientInnen und BewohnerInnen kommen. Und wie wir in einer Ausnahmesituation alles Unwichtige hinter uns lassen und wieder zum Wesentlichen in der Begleitung zurückfinden: den Menschen, den Schutz des Menschen, die Liebe des Menschen und den Wert des Menschen.
Im (Ab-)Grund Mensch sein, erzählt von Michael Mattersberger
Schritt für Schritt nähern wir uns dem Höhepunkt dieser Ausnahmesituation und Krise die uns weltweit bewegt. Stillstand, Tod und eine beispiellose Einschränkung der allgemeinen Freiheit zeigt uns die Grenzen unseres Daseins auf. Es ist, als würde man am Rande eines Plateaus stehen und in einen Abgrund schauen, wo der Boden noch nicht zu erkennen ist. Wohin führt das und wo hört das auf? Wie geht es weiter? Kann das Leben, das ich so mochte, wieder weitergeführt werden? Kann ich wie zuvor, meine Wege so frei gehen und gestalten, wie ich mir das vorgestellt habe? Diese grundlegenden Fragen führen uns in eine Tiefe, wo wir selten eintauchen, wo nur mehr Wesentliches zählt.
Grundwerte, Grundeinstellungen oder Grundhaltungen kommen zu Tage und behandeln Lebensfragen. Ein Grundvertrauen, dass das Leben uns hält, dass egal was passiert, es weitergeht und uns unendliche Möglichkeiten bestehen das Leben weiterzuführen.Ein Grundwert, dass das Leben, das durch mich durchfließt und um mich herum ist, ein gutes und schönes Leben ist. Besonders jetzt im Frühling und im Osterfest zusammengefasst, wie das Leben immer wieder wunderschön erwacht und das mein Eigenwert in meinem Wesen besteht und weiterbesteht, ohne die Bewertungen und Attribute von außen und auch vielleicht über unsere menschlich/begrenzte Form hinaus.Ein Leben das, trotz all dieser Beschränkungen, trotz all dieser Grenzen immer noch in eine Tiefe mündet, in eine Weite, die uns hält, die uns Gutes gibt und uns den eigentlichen Wert unseres Selbst zeigt. Und wenn wir sonst nichts aus dieser Krise gelernt haben und nur diesen Grund, diesen Ur-Grund unseres Daseins spüren, so wird uns wieder ein Schritt zum Wesentlichen, zur Fülle des Lebens gelingen. Vielleicht können wir sogar erkennen, dass diese Tiefe, dieser Grund in eine Einheit und Miteinander alles Leben führt, und uns lehrt, achtsam, wach und liebevoll mit sich, mit den anderen, mit der Umwelt und mit dem Leben umzugehen.
Der Himmel in mir, erzählt von Michael Mattersberger
Schon lange, seit Jahren, begleite ich Herrn Alfred im Wohnheim, der schon seit seiner Kindheit in einer Ausnahmesituation, in einer Ausgesondertheit lebt, da er vielleicht nicht die Intelligenz besitzt, wie der Durchschnitt der Bevölkerung, vielleicht nicht in seiner Emotionsregulierung so kontrolliert sein kann, wie andere Menschen und vielleicht in seiner Persönlichkeitsentwicklung sich oft, auch im späteren Alter, etwas kindlich, etwas abhängig und etwas ängstlich zeigt.
Alfred und ich sprechen sehr viel über seine Sorgen nicht geliebt zu werden, ein Außenseiter zu sein, krank zu sein und mit diesen Krankheiten und Behinderungen leben zu müssen. Er ist sehr religiös und legt seine Sorgen, Ängste und Sehnsüchte viel in die Hände Gottes, versucht mit vielen täglichen Gebeten und Bitten einen Weg durch das Leben zu finden. Alfred sehnt sich nach Gemeinschaft, kann sie aber kaum aushalten. Alfred sehnt sich danach, normal zu sein. Er freut sich über Besuche, die er nach 10 Minuten abbricht, weil er sie nicht mehr aushält, er freut sich über Anrufe, wenn er nicht vergessen wird und freut sich übermäßig über Zuwendung.
In seinem Glauben und in seiner Religiosität sucht er nach einem besseren Leben und freut sich auf ein besseres Leben im Himmel. So liest er viele Bücher über Todeserfahrungen und stellt sich immer wieder den Himmel vor. Bei jedem meiner Besuche fragt er mich, wie der Himmel ausschaue und er freut sich über die Worte unfassbar, undenkbar und übermäßig und stellt mir auch immer wieder die Frage, ob er da, im Himmel, noch krank sei, ob er da noch Außenseiter sei, oder wie die Farben im Himmel aussehen. Dabei versuchen wir auch oft im Gespräch dieses für den Verstand Unfassbare in eine „Ahnung in mir“ zu verwandeln. Obwohl wir den Himmel nicht mit unserem Verstand und unserem Denken fassen können, so gibt es eine Ahnung des Himmels, wo alles Leben entspringt.
Im Außen können wir über das Staunen von z.B. Naturereignisse in eine größere Dimension übergehen und wir die unfassbare Größe dahinter erahnen. Wenn wir uns von dieser Größe weiter hineinführen lassen, so können wir die Einheit, die Verbundenheit von allen Lebenden erkennen und wie wir in einem größeren Ausmaß mit Liebe auf einander bezogen sind. In uns (im Innen) können wir diese Tiefe des Seins fühlen, wenn wir hinspüren in das durch uns pulsierende Leben, oder oft durch ein tiefes Berührtsein vom Anderen oder mir selbst in Liebe. Ein tiefes Berührtsein bis hin zum eigenen Grund, zu einem liebenden Ursprung in mir. So wird in einer Seinsahnung, Seinsfühlung und einer Seinserfahrung eine erlebte Offenheit, für eine für uns übersteigende Größe, verstanden, die als Ursprung des eigenen Personssein und der Existenz empfunden werden kann. So kann ich zu Alfred sagen, dass er in dieser uns übersteigende Dimension herrlicher Liebe und Kraft, geborgen sein kann und sogar in diesem Leben schon die Glückseligkeit und Verbundenheit in ihr erahnen kann. Es wird wohl so sein, dass mich Alfred bei meinem nächsten Besuch, wieder nach dem Himmel fragen wird und von Neuem wissen will, wie der Himmel aussieht. Ich, in meiner Funktion einer psychosozialen Begleitung, werde wohl wieder versuchen, diese unbeschreibliche Dimension zu beschreiben, die er vielleicht, schon immer in sich spürt und erahnt.
Und seien wir uns ehrlich – Alfred ist der eigentliche Experte vom Himmels.
Spiritualität in der Praxis, erzählt von Michael Mattersberger
So kann ich exemplarisch von einem der vielen Gespräche berichten, die im Alter, im Angesicht des Todes, immer wieder stattfinden. Ich war bei Frau Grete (Name geändert), einer sehr gebildeten Frau, die mir erzählte welche Verluste sie in der letzten Zeit erleben musste, dass sie Mann und Wohnung verloren hatte, gesundheitliche Einbußen aufgrund eines Schlaganfalles hinnehmen müsse und im Rollstuhl sitze, wo sie doch vor einem Jahr noch zu Hause lebte, in ihrem hohen Alterversuchte ein Studium zu beginnen und noch bei bester Gesundheit war. Sie haderte mit ihrer Lebenssituation und sagte, dass ihr Leben fast unerträglich geworden sei, dass die Belastungen aufgrund von Krankheiten und Alter so hoch seien, dass sie es kaum ertragen könne. Im Laufe des Gespräches sagte sie mir auch, dass sie es begrüßen würde, wenn sie sterben könnte. Auf diese Aussage hin musste ich als Psychologe fragen, ob sie Gedanken habe, sich das Leben zu nehmen. Frau Grete stoppte, schaute auf den Boden und sprach lange kein Wort. Ich fragte noch einmal nach, da ich schon in diesem Moment spürte, dass Frau Grete durch diese Frage besonders berührt wurde. So fragte ich sie noch einmal, ob sie schon einmal darüber nachgedacht habe, sich das Leben zu nehmen und nach einer Weile antwortete sie mir, „Ja, gerade heute Morgen, gerade heute Morgen konnte ich den Gedanken noch beiseite schieben.“ Das Gespräch nahm seinen Verlauf über die Belastungen des Alters, der Krankheit, das nicht Ertragen können und ich fragte auch weiter, was heute Morgen passiert war, dass sie sich doch nicht das Leben genommen hatte. Sie sagte „Wegen der Familie, wegen der Kinder und wegen der Freunde. Das ist das, was mich am Leben gehalten hat.“ Da spürte sie was sie am Leben hielt, doch der Zugang zu diesem Kraftvollen war erschüttert.
Das Gespräch verlief weiter über Ableben, über hohes Alter und Krankheit und im Kontext des Todes. Da Frau Grete eine sehr religiöse Frau und in einen sehr katholischen Kontext eingebunden war, kamen wir auch auf religiöse Themen zu sprechen. So sagte sie, sie sei trotz ihrer katholischen Grundhaltung doch eine Agnostikerin, man müsse ihr also schon beweisen, dass es einen Gott gibt und gleichzeitig sagte sie, natürlich gebe es keinen Beweis für Gott. Wo sie dennoch Gott spüren könne, sei die vierte Strophe der Deutschen Messe. Franz Schuberts „Heilig, heilig, heilig“, wo es heiße „Er, der nie begonnen, er der immer war, ewig ist und waltet, sein wird immer dar.“ So wie sie das sagte, war das ein besonderer Moment, der sehr berührend und strahlend war. „Der, der immer da war und ist.“ Dieses Gespräch hatte ein paar spirituelle Momente, es waren Momente, in denen die Patientin die Berührung zum Wesentlichen, die Berührung zum Leben spürte. Es war der Moment der Stille nach der Frage, ob sie Gedanken habe, sich das Leben zu nehmen. Man spürte die Betroffenheit, das Berührtsein vom Wesentlichen, von einer Lebensfrage: Will ich leben? Will ich sterben? Welche Möglichkeiten habe ich? Welchen Wert hat das Leben? Es war weiterhin zu spüren in der Antwort auf die Frage, was sie hinderte, sich das Leben zu nehmen, in ihrer Antwort nach der Beziehung und der Liebe zur Familie und zu den Freunden. Und es waren auch das Strahlen und die Berührung durch die Beschreibung von Franz Schuberts Sanctus. In vielen dieser psychologischen und psychotherapeutischen Gespräche, aber auch in Gesprächen des Alltags kann man immer wieder diese Momente des besonderen Berührtseins, der besonderen Tiefe, des besonderen Geheimnisses im eigenen Leben, im Leben des anderen und vielleicht auch im Kontext eines tieferen Geheimnisses des Lebens spüren. Vielleicht auch so wie es die Hirten beim Anblick des Kindes erkannten und spürten.
Hilflose Trauer, erzählt von Michael Mattersberger
Immer wieder erleben wir in unserem Arbeitsalltag, dass aus einer Hilflosigkeit bei helfenden Diensten, aus hilflosen Reaktionen der Patienten selbst, aus Zeitmangel oder Überforderung der Angehörigen zu Psychopharmaka gegriffen wird. Oft wird die Wirkung der Medikamente sehr wenig geprüft, sodass sie bei unzureichender oder sogar schädlicher Wirkung wieder abgesetzt werden können. So geschieht es auch bei vielen meiner psychologischen Begleitungen älterer Menschen, dass oftmals aus einer Hilflosigkeit heraus zu schnell, zu viel und über einen zu langen Zeitraum Psychopharmaka verabreicht werden.
Dies passierte bei meiner Begleitung von Frau Maria (Name geändert), die ihren Mann verlor und sich selbst in einem beginnenden dementiellen Abbau befand. Ich begleitete Frau Maria und ihren Mann Anton (Name ebenfalls geändert) schon etwa ein Jahr lang zuhause und auch in ihrem Übergang von zuhause ins Wohnheim, wo sie gemeinsam ein Zimmer beziehen konnten und sich nach einer längeren Eingewöhnungsphase recht gut eingelebt hatten. Nach einiger Zeit bekam Anton eine Lungenentzündung. Schon seit Jahren wollte er lieber sterben als leben, weil ihm das Leben zu schwer geworden war und durch die Lungenentzündung wurde er sehr schwach und verstarb schließlich.
Seine Frau Maria hing sehr an ihm, vielleicht war das auch ein Grund dafür, warum er so lange nicht hatte sterben können. Nach diesen langen Ehejahren war sie nun allein im Wohnheim und wartete oft auf die Besuche der Kinder und Enkelkinder, trotzdem ergriff sie eine hohe Einsamkeit, die sie sehr betroffen machte, ihre kognitiven Beeinträchtigungen verstärkte und sie sehr in Unruhe brachte. Diese Unruhe ließ sie oft vom Wohnheim nach Hause laufen. So vergingen ein paar Monate und es rückte der erste Allerseelentag näher. Ich war in dieser Woche leider auf Urlaub, doch die Pflege erzählte mir, dass sich die Situation in diesen Tagen sehr zugespitzt hatte. Frau Maria wollte nach Angaben der Pflege nicht mehr leben, sie öffnete das Fenster, wollte hinaus, ihren Mann suchen, wollte vielleicht zu ihm.
Sie sprach in nicht realitätsnahen Gedanken darüber, dass ihre Kinder gestorben seien, dass auch andere Angehörige und weitere Menschen aus ihrem Umfeld gestorben seien, sie nun allein sei und ebenfalls nicht mehr leben wolle. Aufgrund dieser Gefährdung wurde sie ins psychiatrische Krankenhaus überwiesen, wo sie zwei oder drei Wochen blieb. Sie kam verändert wieder, hatte eine medikamentöse „Einstellung“ hinter sich und schien wieder einigermaßen zu „funktionieren“. Sie funktionierte so, dass sie im Wohnheim blieb, sie war nicht gerne hier, aber sie blieb in ihrem Zimmer, schlief viel und es hatte, mit durch die medikamentöse Therapie, verhindert werden können, dass sie sich das Leben nahm. Die psychische Belastung war sicher auch weniger hoch und, auch wenn sie nicht gerne am Leben war, war es doch erträglich für sie. Jede Woche kam ich zu ihr, wir redeten viel über ihre Verluste, über den Schmerz nicht mehr zuhause sein zu können und die Trauer über den Verlust ihres Mannes. Doch sie wurde immer stiller. Die Gespräche wurden immer karger und Frau Maria verstummte zunehmend, vielleicht auch wegen des fortschreitenden dementiellen Abbaus, aber man sah auch ihre emotionale Anspannung im Hintergrund und dass es ihr immer schlechter ging. Nach der medikamentösen Therapie, die ihr das Leben zunächst einigermaßen erträglich gemacht hatte, folgte ein sehr starker kognitiver Abbau und nach einer emotionalen Verflachung eine sehr starke emotionale Anspannung im Hintergrund, die man äußerlich sehen konnte. Frau Maria „funktionierte“ zwar und war kaum auffällig, zeigte jedoch trotzdem eine hohe kognitive und emotionale Symptomatik sowie Verhaltensänderungen, die im Wohnheim kaum auffielen. Aufgrund dieser Entwicklung gab ich der Pflege die Rückmeldung, dass die Schweigsamkeit, die innere Anspannung und der zunehmende Rückzug von Frau Maria meiner Meinung nach auch mit der medikamentösen Therapie zu tun hatten. So ging man daran Medikamente wieder abzusetzen und man konnte deutlich sehen, wie sich die emotionale Anspannung verringerte, Frau Maria von Woche zu Woche strahlender wurde und allein durch das Absetzen der Medikamente wieder Leben in sie zurückkehrte. Ihre kognitive Beeinträchtigung und vor allem der schnell fortschreitende kognitive Abbau, der sicher auch im Zusammenhang mit der medikamentösen Therapie zu sehen war, blieben leider. So besuche ich sie weiterhin jede Woche. Der kognitive Abbau ist irreversibel, degenerativ. Doch das emotionale Befinden ist oft auch sehr freudig und entspannt, Frau Maria ist immer gern bereit Ausflüge zu machen, sich in Gruppen einzubringen, mit anderen am Tisch zu sitzen und das Leben wieder zu leben, weniger im Rückzug, weniger im Dämmerzustand. So kann sie nun trotz kognitiver Einbußen noch ein paar Jahre gut leben.
Bei dieser Begleitung wurden mir Fluch und Segen von Psychopharmaka wieder bewusst. Einerseits tragen sie zur Stabilisierung in kritischen Situationen bei und können so Leben retten, zumindest soweit, dass man noch funktionieren kann, andererseits können sie das Leben und die Lebendigkeit eines Menschen sowie sein psychisches Befinden auch massiv beeinträchtigen, vor allem wenn sie zu unkritisch oder unreflektiert eingesetzt werden, der Verlauf zu wenig beobachtet und nicht auf ein Absetzen der Medikamente geachtet wird und es damit zur Dauermedikation kommt.
Ich werde sterben, erzählt von Petra Obrist
Ich wurde vom Wohnheim telefonisch mit der Bitte kontaktiert Frau E., eine an Schizophrenie erkrankte Patientin, zur Sonographie zu begleiten. Frau E. zeigte sich in letzter Zeit sehr ängstlich und sowohl die Fahrt und der Transport mit der Rettung als auch die Untersuchung stellten eine beängstigende und herausfordernde Situation für sie dar. Bevor ich mit Frau E. in das Rettungsauto stieg, atmete ich ein paar Mal tief durch, ich wusste dass sie sehr sensibel auf von ihr wahrgenommene Gefühle ihres Gegenübers reagieren konnte, und ich musste mir eingestehen, dass ich ein wenig nervös war, obwohl ich sie schon lange kannte - oder vielleicht gerade deshalb? Es wäre nicht das erste Mal, dass Frau E. mir oder ihr unbekannten Menschen mit Argwohn gegenüber trat und ein paar harsche Bemerkungen von sich gab, sodass ich manchmal am liebsten im Erdboden verschwunden wäre.
Ich spürte Frau E. Angst deutlich, obwohl sie sich sehr ruhig verhielt und kein Wort sprach. Auch die Untersuchung ließ sie im Großen und Ganzen ruhig über sich ergehen. Einige Male murmelte der Arzt etwas für mich Unverständliches, dass hier und da eine Auffälligkeit zu beobachten sei. Nach Abschluss der Untersuchung war mir das Ergebnis unklar. Der Arzt verabschiedete sich höflich von uns, jedoch ohne uns nähere Informationen zu geben. Sobald er das Zimmer verlassen hatte, sagte Frau E. klar und deutlich zu mir: „Ich werde sterben.“ Im ersten Augenblick war ich einfach nur überrascht, dass sie plötzlich mit mir sprach. Dann traf mich der Satz mit voller Wucht. Ich war sehr berührt in diesem Moment echter Begegnung mit Frau E.
Nach der Untersuchung verbrachte sie einige Tage im Wohnheim, bevor sie auf die Klinik kam, wo ich sie besuchte.
Ich trat ins Zimmer und setze mich zu ihr. Frau E. erwiderte meinen Blick mit ungewohnter Festigkeit. Auch die Ärztin setzte sich zu uns, um mir mit leiser Stimme in medizinischem Fachjargon vom gesundheitlichen Zustand von Frau E. zu berichten. Die ganze Zeit über ließ Frau E. uns nicht aus den Augen. Ich brauchte eine Weile, bis die erschütternde Nachricht der Ärztin bei mir ankam und ich sie verstand. Ich war noch dabei die Information zu verarbeiten und darüber nachzudenken, wie ich diese Frau E. weitergeben sollte, da sie schlecht hörte und die Mitteilung der Ärztin akustisch nicht verstehen hatte können, als Frau E. mit klarer Stimme sagte: „Ja, ich werde sterben“.
Wiederum war ich zunächst über die abrupte, klare und treffende Aussage von Frau E. erstaunt, dann sehr betroffen davon und es fiel mir schwer, meine Tränen zurückzuhalten. Ich spürte deutlich Angst bei Frau E. Sie hielt das Bettgitter fest umklammert und schaute mich mit großen Augen an.
Obwohl ich wusste, dass sie Berührungen ablehnte, bot ich ihr meine Hand an, die sie nach kurzem Zögern nahm und während meiner gesamten Anwesenheit festhielt und nicht mehr los ließ. Nach einer Lebensrückblicksintervention und einem therapeutischen Gespräch hinsichtlich Sterben und Tod, während denen Frau E. mir schweigend zuhörte, sagte sie: „Danke. Sie sind eine gute Frau“.
Geschichte einer Prägung: Ledig schwanger zu Kriegsende, erzählt von Bettina Fraisl
Traudl (Name geändert) war das jüngste von drei Kindern einer gut situierten Familie und wuchs behütet und gut umsorgt in Tirol auf. Ihr Vater, den sie für seine beruflichen Erfolge sehr bewunderte, nahm sie als einziges seiner Kinder manchmal auf Bergtouren mit – das waren wunderschöne Ausflüge für Traudl, auf denen sie sich ihrem Vater nahe fühlte, vertraut und geborgen, und die sie und ihre Liebe zu den Bergen sehr prägten. Bis ins hohe Alter zählten Spaziergänge und Wanderungen in der Natur zu den schönsten Momenten in ihrem Leben, erzählte Traudl immer wieder.
Als der 2. Weltkrieg ausbrach, war Traudl eine junge Frau, gerade erwachsen. Sie arbeitete fleißig und war in gutem Einvernehmen sowohl mit ihrem Arbeitsumfeld als auch mit ihrer Familie, die ihr sehr wichtig war. Oft betonte sie in ihren Erzählungen, dass man sich die Zeit damals heute kaum vorstellen könne. Wenn man später geboren sei, könne man nicht wissen, wie es damals war. Einmal habe eine Bombe das Haus direkt neben jenem ihrer Familie getroffen, es sei dadurch vollkommen zerstört worden. Die permanente Angst, der Schrecken ringsum, die allgemeine Orientierungslosigkeit und das Chaos hätten zu einer großen Unsicherheit geführt, zu einer Lebensweise ohne Pläne und ohne Planbarkeit.
Gegen Ende des Krieges übersiedelte die Firma, in der Traudl arbeitete, an einen anderen Ort, wo sie einen Mann kennen lernte, der vorübergehend dort lebte. Die beiden verbrachten manchmal ihre freie Zeit zusammen. In der herrschenden Stimmung, jedes Morgen sei ungewiss, lebten beide ganz im Moment und näherten sich einander auch körperlich an, ohne große Liebe und Zukunftspläne. Zu ihrem Entsetzen stellte Traudl bald fest, dass sie schwanger war, ledig schwanger und ohne Aussicht auf Heirat, was in ihrer Familie und ihrem gesellschaftlichen Stand verpönt und eine Schande war. Der Vater ihres unehelichen Kindes wurde bald außer Landes versetzt und sah sich außerstande, sich um sie und das Kind zu kümmern. Jahrzehnte später erfuhr sie von seinem Tod bei einem Schiunfall.
Für Traudl brach eine schwere Zeit an. Ihre Eltern empfanden es erwartungsgemäß als sehr schlimm, dass ihre jüngste Tochter unverheiratet ein Kind bekam und darüber hinaus nicht einmal eine ernsthafte Liebschaft vorzuweisen hatte. Insbesondere ihr Vater, dessen besonderer Stolz sie gewesen war, verwand die Schande, die sie damit über die Familie gebracht hatte, kaum. Nie sprach er mit ihr über das Kind und auch sonst sprach er bis zu seinem Tod kaum mehr mit ihr. Beim Essen verbot er seiner Tochter fortan, sich mit ihren Eltern gemeinsam an einen Tisch zu setzen.
Für Traudl brach eine Welt zusammen, ihr Leben verlor seine Koordinaten. Die Menschen, die ihr am wichtigsten waren, denen sie sich nahe fühlte, behandelten sie, als wäre sie nun ein wertloses Nichts, anstatt ihr Trost, Annahme und Schutz zu gewähren.
Als sich später ein Mann nach bereits erklärtem Heiratsversprechen von ihr trennte, weil er offenbar doch eine Andere bevorzugte, meinte Traudl vor Scham zu vergehen. Bitter fasste sie den Beschluss, den Männern sei nicht zu trauen, es sei kein Verlass auf sie, weshalb es besser war, allein zu bleiben, verantwortlich zu handeln und sich nichts (mehr) zuschulden kommen zu lassen. Und obwohl sie diesem Beschluss treu blieb, traf sie die ganze Härte eines einzigen „Fehltritts“, den sie in gewisser Weise ihr Leben lang büßte und abzubüßen versuchte.
Anfang 1946 brachte Traudl ihr Kind zur Welt, das in verschiedenen Kinderheimen und Pflegefamilien aufwuchs. Sie versuchte ihr Bestes, um neben ihrer Arbeit und anderen Verpflichtungen, die sie auf sich nahm, darauf zu schauen, dass es dem Kind gut ging. Es selbst in Liebe aufzuziehen war ihr aus verschiedenen Gründen nicht möglich; u.a. fühlte sie sich ihrer Ursprungsfamilie, die das Kind nie wirklich als zugehörig akzeptierte, verpflichtet und versuchte sich die Anerkennung, die sie vermisste, nicht nur mit Fleiß zu verdienen, sondern auch damit, dass sie zeigte, wo ihre Prioritäten lagen. Es war das Jugendamt, das immer wieder nach dem Kind fragte, wo es denn sei und was es tue. Traudls Mutter, eine fürsorgliche Frau, durfte sich laut ihrer Tochter nicht für ihr Enkelkind interessieren, weil sie sonst den Zorn ihres Mannes auf sich gezogen hätte. Und Traudl wollte ihre Mutter nicht belasten.
Während ihre Eltern sich von ihr abwandten, weil sie ihr offensichtlich schuldhaftes Vergehen vorwarfen, das nie durch eine spätere Heirat gesühnt worden wäre, unterstützte Traudl in den folgenden Jahren ihre bedürftiger werdenden Eltern und andere Verwandte zunehmend tatkräftig, indem sie sich um deren Befindlichkeiten und Belange kümmerte, damit es ihnen an nichts mangelte. Ihr Bemühen änderte jedoch an der Haltung ihres Vaters ihr gegenüber nichts; er blieb ablehnend bis zuletzt und starb schließlich unversöhnt, was einen tiefen bleibenden Schmerz bei Traudl hinterließ. Seine Frau folgte ihm nur wenige Jahre später.
Als Traudls Kind erwachsen war, verließ es Österreich und wanderte aus. Seine Kindheit und Jugend hatte es als hart erlebt, hart vor allem aufgrund mangelnder Liebe und Annahme, einem mangelnden Zugehörigkeitsgefühl, alles getragen von mehreren Personen und Institutionen, aber gebündelt gefasst im Bild einer Mutter, die ihm unnahbar und ablehnend erschienen war und der es endlich zu entkommen galt. Einmal in den vier Jahrzehnten in der neuen Heimat besuchte Traudl ihr Kind, fühlte sich aber nicht wirklich willkommen und gewann den Eindruck, dem Kind lag es nicht an Kontakt mit ihr.
Mittlerweile ist Traudl selbst alt und pflegebedürftig. Sie ist geistig für ihr Alter sehr wach und beobachtet mit Vorliebe, ob die Leute in ihrer Umgebung wohl alles „richtig“ machen, so wie sie in ihrem Leben alles stets ordentlich gemacht habe. „Fehler“ sieht sie sofort und moniert sie mit Ausdauer und Schärfe. Neben einer klaren Struktur braucht Traudl ganz besonders viel Aufmerksamkeit, Entscheidungsfreiheit und (Selbstwert)Bestätigung. Sie reagiert sehr sensibel auf Einschränkung und Ablehnung. Ihre Verzweiflung über ihren eigenen Zustand und ihre Verluste wendet sie häufig aggressiv nach außen. Sie hat nicht gelernt zu trauern, sich selbst zu reflektieren, anderen zu verzeihen, sich zu verzeihen.
Vor ein paar Monaten war ihr Kind, nun bereits selbst in Pension, bei ihr zu Besuch, über ein paar Wochen hinweg immer wieder. Es war das erste Treffen seit fast zwei Jahrzehnten. Trotz neuer Verletzungen während der Begegnungen fand erstmals auch ein Stück aussöhnende Annäherung statt. Im Bewusstsein, dass dies die letzte Gelegenheit war, einander im persönlichen Kontakt zu begegnen, gelang es beiden trotz aller Einschränkungen und Barrieren, einander etwas von der Liebe und Anerkennung zu zeigen und zu geben, die beide schon so lange gebraucht hätten, und sich schließlich in Frieden voneinander zu verabschieden.
Wortlos vertraut, erzählt von Daniela Siegele
Anton ist nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt, voll pflegebedürftig und kann sich nur durch Mimik, Blinzeln, Kopfwegdrehen und Handdrücken verständigen. Früher war er unter anderem Sraßenmaler und so fahren wir an einem kalten Tag durch die Gänge im Wohnheim und betrachten die neuen Bilder. Ich erzähle ihm zu den Bildern Geschichten, die in mir aufsteigen, mache scherzhafte Bemerkungen, hole ihm einzelne Bilder von der Wand, damit er mit dem Finger die Struktur erfühlen kann, und hänge eines aus Spaß verkehrt herum wieder auf.
Anton wirkt entspannt und fröhlich, grinst über meine Scherze und ist erstaunlich aufmerksam. Auf einmal ändert sich sein Gesichtsausdruck, er wirkt nachdenklich, traurig. Ich hocke mich zu ihm neben seine Liege, und er tippt mir zweimal langsam mit dem Finger gegen die Stirn. „Du willst wohl sagen, dass ich einen Vogel habe”, sage ich zu ihm. Er lächelt kurz, sammelt sich dann wieder, tippt mir noch einmal leicht gegen die Stirn und streicht mir dann eine Haarsträhne aus dem Gesicht - eine Geste, die wortlos Vertrautheit und Verbindung bekundet. Auch wenn ich meist nicht weiß, was Anton denkt, und nur erahnen kann, wie er sich fühlt, so sind Kommunikation und Beziehung dennoch möglich und das, was er noch geben und tun kann, ist viel mehr, als vielfach erwartet wird.
Ins Herz geschlossen, erzählt von Michael Mattersberger
Eine besonders innige und berührende Begleitung erlebte ich mit Hermi, einer intelligenzgeminderten Frau, die schon seit längerem im Wohnheim lebte. In der ersten Zeit weinte und jammerte sie häufig und anhaltend und hatte einige psychosomatische Beschwerden, doch im Laufe der Jahre wurden das Weinen und Jammern weniger und seltener, und wir hatten wirklich schöne Zeiten. Jede Woche machten wir gemeinsam einen Ausflug, gingen etwa igendwohin Eis essen, ins Café, selbst bei Operationen war ich mit der Zeit ihr Begleiter auf der Klinik. Wir hatten eine außergewöhnlich gute Beziehung, wir hatten einander beide sehr ins Herz geschlossen, sie mich und ich sie.
Gegen Ende ihres Lebens hatte Hermi immer wieder Wutausbrüche. In diesen Phasen schlug sie andere HeimbewohnerInnen und zerstörte Einrichtungsgegenstände, was die Pflegedienstleitung und die Heimleitung schließlich ganz hilflos machte. Oft nahmen sie dann das Telefon zur Hand und riefen mich an, damit ich über den Hörer Hermi beruhige. Ich erinnere mich etwa, wie eine Pflegerin, mit der ich ein sehr gutes Einvernehmen hatte, am Telefon zu mir sagte: „Jo, Michl, Michl, hea da des on, hea da des on!“ – und dann hielt sie den Telefonhörer in den Gang, und ich hörte Hermi im Hintergrund ihre Garderobe eintreten und die Heimleitung an ihrer Zimmertür rufen: „Hermi, Hermi, mach auf!“, während Hermi drinnen weiter randalierte. Die Pflegerin sprach weiter: „Etz heasch da des olles amol on, Michl, und wos sollma denn do tuan?“ Ich bat sie, mir Hermi ans Telefon zu holen. „Hermi, da Michl isch am Telefon!“ rief sie laut den Gang entlang. Und kurz darauf war Hermi am Telefon: „Michl, Michl, bisch dus?“ – „Jo, Hermi, wos isch denn los?“ Schweigen. „Hermi, wos ischn los?“ – „Michl, bisch dus?“ – „Jo, Hermi, etz isch guat, hea lei auf wieda.“ – „Jo, kimmsch du n Donnerschtog?“ – „Jo.“ – „Jo pfiati.“ – „Pfiati.“ Und damit war sie wieder beruhigt.
Bittersüße Weihnachtszeit, erzählt von Michael Mattersberger
Bereits ein halbes Jahr begleitete ich Frau Wibmer in einer psychosozialen Therapie, die anfangs sehr herausfordernd war. Frau Wibmer litt nämlich unter einer paranoiden Schizophrenie, die zur Folge hatte, dass sie Menschen gegenüber sehr misstrauisch war und ein Beziehungsaufbau sich daher sehr schwierig gestaltete. Nach zwei, drei Monaten ließ mich Frau Wibmer schließlich länger als eine halbe Stunde bei ihr sitzen, erzählte mir von ihrem Alltag und vertraute mir immer mehr von ihrer Lebensgeschichte an. Stets kam ich an einem Dienstag Nachmittag zu ihr, und wir pflegten mittlerweile ein kleines Ritual, das darin bestand, dass wir zu Beginn miteinander Kaffee tranken und manchmal am Ende der Gespräche eine Platte von Elvis Presley auflegten. Ein paar Monate vergingen, zunehmend entwickelte sich eine sehr gute Beziehung zwischen uns und unsere Gespräche gewannen für Frau Wibmer an Bedeutung.
Schon kurz nach Allerheiligen kamen bei Frau Wibmer erste Weihnachtsfreuden auf. Die Aussicht auf Weihnachten schien sie zu beglücken, sie stellte einige Engel auf, und ich half mit, das Zimmer weiter zu dekorieren.
Ich sah es sehr positiv, dass Frau Wibmer einen so hohen Wert darin sah und eine so große Freude erleben konnte. In den Gesprächen mit dem Pflegepersonal erfuhr ich, dass die Weihnachtszeit bei Frau Wibmer stets eine sehr kritische Zeit gewesen sei und sie in den letzten Jahren um Weihnachten herum immer wieder stationär in der Psychiatrie aufgenommen werden musste. Für mich waren mögliche Gründe dafür nicht zu erkennen, und ich konnte durch Weihnachten keine Gefahr auf Frau Wibmer zukommen sehen. Ich thematisierte Weihnachten mit ihr, erfuhr dabei aber sehr wenig über vergangene Weihnachtsfeste von Frau Wibmer, da einerseits ihr Vertrauen offenbar noch nicht groß genug dafür war und sie andererseits aufgrund eines gewissen kognitiven Abbaus oft nicht so zugänglich war.
Die Novembertage gingen sehr unauffällig dahin. Zunächst merkte ich lediglich, dass Frau Wibmer sehr freudig auf das Fest zuging. Dann allerdings sah ich, dass diese Freude zunehmend euphorischer wurde. Anfang Dezember hörte ich sehr irreale Sätze von Frau Wibmer: dass der Kaiser ihr Großvater sei und sie besucht habe, dass sie eine blaublütige Adelsbraut sei und vom Geschlecht Maria Theresias stamme. Solche Aussagen und Gedanken häuften sich nun immer mehr. Parallel dazu wuchs ihr Misstrauen, sodass wir schließlich die Entscheidung trafen, Frau Wibmer wieder stationär in der Psychiatrie aufnehmen zu lassen, damit auch die Schizophrenie medikamentös besser behandelt werden konnte. Als ich Frau Wibmer auf der Psychiatrie besuchte, sah sie in mir einen vom Kaiser gesandten Spion und baute mich nun in ihr Wahnsystem ein. Schweren Herzens musste ich deshalb die Begleitung von Frau Wibmer zurücklegen.
Einige Wochen lang beschäftigte mich der Verlauf der Vorweihnachtszeit bei Frau Wibmer. Ich fragte mich, ob ich etwas übersehen hatte, ob ich sie besser oder anders begleiten hätte können. Mich schmerzte der Therapieabbruch, auch weil sie sonst keine Angehörigen, BesucherInnen oder Vertrauensperson hatte. Nach einigen Monaten erhielt ich von der Pflege des Wohnheims einen Anruf: Frau Wibmer hatte den Wunsch geäußert, mich wieder einmal zu sehen. Gerne kam ich diesem Wunsch nach, ging zu Frau Wibmer und wurde sehr herzlich von ihr begrüßt. Wir nahmen den Rahmen der Betreuung vor der Weihnachtszeit wieder auf. Die Feindseligkeit, die Frau Wibmer während der Weihnachtszeit mir gegenüber gezeigt hatte, war verschwunden. Sie misstraute mir nicht mehr, es war wieder wie vorher. SachwalterInnen und Pflegepersonal entschieden mit mir gemeinsam, dass ich Frau Wibmer wieder begleiten sollte.
Im folgenden Jahr war ich schon im November auf der Hut, die Vorweihnachtszeit! Und ich hatte mich vorbereitet im Laufe des Jahres, hatte Information gesammelt und viele Erfahrungen gemacht. Ich wusste nun, dass Frau Wibmer sehr schwierige und auch schöne Weihnachtszeiten hinter sich hatte. Sie erinnerte sich zu Weihnachten an ihre Eltern, die das letzte Mal Weihnachten mit ihr zuhause gefeiert hatten, als sie 10 Jahre alt gewesen war. Sie erinnerte sich auch an den Schmerz, den sie tags darauf erlebte, als eine Sozialarbeiterin sie von zuhause abholte und wegbrachte, zu Großmutter und Tante auf einen Hof, wo sie nicht gut behandelt wurde und sehr viel arbeiten musste. Ich wusste nun auch, das Frau Wibmer schon sehr früh an Schizophrenie erkrankt war und ihr eigenes Kind ihr auch in der Weihnachtszeit weggenommen wurde, wieder von einer Sozialarbeiterin, die sie noch heute in ihren Fantasien begleitet. Ich wusste mehr, hatte mehr Erfahrung, und auch meine Beziehung zu Frau Wibmer war gestärkt.
Und dann begann Frau Wibmers Stimmung sich wieder zu verändern. Die Weihnachtszeit wühlte sie wieder auf. Die Sozialarbeiterin meldete sich in ihren Gedanken, sagte ihr, was sie zu tun habe, betrat ihr Zimmer und wurde damit wieder bedrohlich. Oft sprach Frau Wibmer neben mir mit der imaginären Sozialarbeiterin, aber nun wusste ich über die Geschichte dahinter Bescheid und konnte mich unterstütztend einbringen. Ich half Frau Wibmer dabei, den Stimmen in ihrem Kopf entgegenzutreten, indem ich ihr erklärte, dass die Sozialarbeiterin hier im Wohnheim kein Mitspracherecht habe, dass die Pflege tagsüber, die Nachtschwester und ich genau darauf achten, dass dies ein geschützter Raum bleibt, dass die Sozialarbeiterin hier keinesfalls eingreifen könne. Immer wieder besprach ich mit ihr, dass sie nun hier im Wohnheim in Innsbruck sei, wo nichts passieren könne, wo auf sie aufgepasst werde und der Sozialarbeiterin der Zugriff definitiv versperrt sei.
Langsam gewann Frau Wibmer an Sicherheit. Sie kam nicht mehr auf die Psychiatrie, weder zu diesen Weihnachten noch in einem der folgenden Jahre. Konkret widmeten wir uns nun der Bearbeitung von Weihnachten, die zunehmend besser gelang, betrachteten die schönen Seiten von Weihnachten ebenso wie die traurigen, schmerzlichen Seiten, und Frau Wibmer schaffte es immer besser, diese nicht zu vermischen. So konnte sie sich mit schmerzhaften Erinnerungen auseinandersetzen und die Weihnachtszeit dennoch genießen. Für mich war es ein großes Erlebnis zu erfahren, wie Traurigkeit, Schmerz, Freude und Leben ineinander greifen beim Weihnachtsfest.
Sicherheit und Halt, erzählt von Manuela Zeidler
Vor ca. zwei Jahren lernte ich Frau C. kennen. Damals hatte sie schon mehrere stationäre psychiatrische Aufenthalte hinter sich und eine ambulante Betreuung bereits abgebrochen. Sie lebte noch zuhause, hatte jedoch aufgrund ihrer erhöhten Unruhe und ihrer häufigen Angstzustände erhebliche Probleme in der Alltagsbewältigung. Dies äußerte sich beispielsweise darin, dass sie ihre Angehörigen häufig anrief und zwanghaft Tätigkeiten kontrollierte, deren Unterlassung ihre Sicherheit gefährden könnte – das Abschließen von Türen etwa oder das Abschalten des Herdes. Außerdem machte ihr Schlafmangel zu schaffen, bis dieser medikamentös gut behandelt wurde.
Kurz nach unserem Kennenlernen durchlitt sie eine schwere Krise. Ihr Mann, der schon lange im Pflegeheim war, verstarb ziemlich plötzlich. Sie konnte sich seinen Tod nicht erklären, wo er doch noch so viel Lebenswillen gehabt hatte. Allerdings war sie froh, dass er nicht stark leiden hatte müssen.
Der Verlust ihres Mannes machte Frau C. immer wieder sehr zu schaffen. Sie war sehr froh über meine Unterstützung. Ich konnte ihr bei ihrer Orientierung helfen, indem ich ihr Zusammenhänge von Trauer und Trauerprozessen erklärte, was für sie sehr wichtig war. So konnte sie sich beruhigen und in ihrem Zustand Anzeichen von Trauerbewältigung erkennen.
Darüber war sie sehr dankbar. Als sie die schlimmsten Phasen ihrer Trauer überstanden hatte, dachte sie, sie würde nun gut ohne mich zurecht kommen und wollte die Betreuung beenden. Ihren Angehörigen und mir war jedoch klar, dass sie auch nach dieser Krise in ihrer Lebenslage regelmäßige Begleitung brauchte, besonders im Hinblick auf die zwar in abgeschwächter Form, aber doch immer wiederkehrenden Unruhezustände. Wir einigten uns auf weniger Treffen in größeren Abständen. Als dann der Umzug ins Heim vor der Tür stand, zeigte sich, wie wichtig die Entscheidung gewesen war, die Betreuung fortzusetzen.
Frau C. war bereits als Kind sehr belesen und interessiert, aber eine höhere Schulbildung konnte ihr leider nicht ermöglicht werden. Aus finanziellen Gründen, heißt es. Frau C. erlernte den Beruf einer Schneiderin und war damit nicht sehr zufrieden. Sie mochte die Tätigkeit zwar oft nicht ungern, doch war sie ihr auf Dauer zu einseitig und forderte sie zu wenig. Deshalb versuchte sie ihre Wünsche nach geistig anspruchsvoller Betätigung einerseits durch viel Lesen in ihrer Freizeit und andererseits durch die schulische Unterstützung ihrer Kinder zu erfüllen. Dass die Kinder ihre unerfüllten Wünsche nicht so ausleben wollten bzw. konnten, da sie andere Talente und Interessen hatten, machte ihr sehr oft zu schaffen. Mit viel Fleiß hatte sie sich dafür eingesetzt, ihren Kindern eine höhere Schule und eine ambitioniertere Laufbahn zu ermöglichen, damit sie es einmal besser haben würden als sie.
Frau C. blieb die geistige Beschäftigung als anregendes Hobby: in der Freizeit las sie ein Lexikon nach dem anderen. Auch die Freude am Reisen, die sie mit ihrem Mann teilte, erfüllte sie immer wieder. Heute, so meint sie, wäre sie nicht mehr so mutig, und alles strenge sie auch sehr an. Am liebsten ist Frau C. mittlerweile in ihrer gewohnten Umgebung. Sie war es gewohnt viel selbständig zu organisieren und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Sie war sehr fleißig, aber auch sehr streng mit sich selbst, da sie, so sagte es ihre Mutter, die Strenge brauche. Sie wäre sonst viel zu unruhig und zappelig. Doch kann die Strenge auch Unruhe erzeugen, nämlich wenn die eigenen Fähigkeiten oder Bedürfnisse den engen Vorstellungen nicht entsprechen. Dies bringt Unsicherheit, Unruhe und Ärger – Ärger mit sich und der Welt sind die Folgen.
Oft versucht Frau C. nun mit den Dingen so, wie sie eben sind, zurecht zu kommen, und meist gelingt es ihr auch sehr gut. Sie lebt jetzt im Wohnheim und für ihre Sicherheit ist gesorgt. Eine Belastung weniger, so kann sie es mittlerweile sehen. Doch anfangs hatte sie diese vermeintliche Sicherheit vor allem als Bedrohung und Bevormundung empfunden. Obwohl sie manchmal selbst dachte, dass dieser Schritt nun notwendig sei, zweifelte sie häufig daran und lehnte ihn immer wieder ab. Die Angst, ihre Selbständigkeit, die ihr lebenslang so wichtig gewesen war, verlieren zu können, war sehr groß. Diese Angst war so groß, dass Frau C. sich auch nach der Übersiedlung ins Heim noch in ihrer Vorstellung in ihren eigenen, für sie sicheren vier Wänden ihrer Wohnung aufhielt. Das sehr einfühlsame Verhalten der PflegerInnen und auch das Offenhalten von Alternativen halfen ihr in dieser Situation sehr. Engmaschige Gespräche über die derzeitige Lebenssituation und eine bestmögliche Lösung sowie über Lebensaufgaben im Alter unterstützten sie dabei, sich neu orientieren zu lernen und Vertrauen zu fassen. So konnte sie sich ihrer Situation langsam annähern, ihre neue Umgebung wahrnehmen und diese soweit als möglich annehmen lernen. Frau C.s Zustand begann sich geradezu sprunghaft zu verbessern und selbst grobe Stürze und Brüche nahm sie mit Fassung hin, ohne sich unterkriegen zu lassen.
Im Großen und Ganzen geht es Frau C. nun im Wohnheim sehr gut, sie fühlt sich wohl und spricht auch sehr oft davon, zufrieden zu sein. Sie geht generell aufmerksam durchs Leben und kann sich jetzt über Vorteile freuen, die sich aus ihrer nunmehrigen Situation ergeben. Dass Kinder ins Heim kommen und vorsingen oder dass es im Wohnhaus eine eigene Kapelle gibt, das sei ja einmalig und wäre bei ihr zuhause nicht möglich gewesen. Herausfordernd ist für Frau C. das Knüpfen von Kontakten, wobei ihr das ihr Leben lang eher schwer gefallen sei. Sie sei nie ein Gesellschaftstyp gewesen, sagt sie, und zieht sich auch im Wohnheim oft in ihr Zimmer zurück, um die Ruhe und das Fernsehprogramm zu genießen. Solange sie regelmäßigen Besuch von ihren Angehörigen bekommt, geht dies ganz gut, nur in der Urlaubszeit beginnt es schwierig zu werden. Doch da sind ja wir da, um sie bestmöglich aufzufangen…
Ressourcen mobiliseren und Verluste bearbeiten: Rucksäcke tragen mit Frau Amann[1], erzählt von Manuela Zeidler
Frau Amann geht es heute besser als letzte Woche. Sie beginnt nun manchmal von sich aus zu scherzen, ist aber nach wie vor immer wieder traurig. Die Last des Erlebten, insbesondere der traumatischen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg, und der erlittenen Verluste, allen voran des Todes ihres Mannes und des Auszugs aus dem gemeinsamen Zuhause, wiegt schwer. Zur sinnbildlichen Aufarbeitung lade ich sie zu einer Wanderung auf den Patscherkofel ein: Wir erklimmen den 2. Stock ihres Wohnheimes, und Frau Amann beschreibt, es sei sehr mühevoll hinaufzusteigen, da das Schwere, das sie erlebt habe, sie zu Boden drücke. Sie habe keine Kraft mehr, sagt sie.
„Ihr Rucksack, den Sie Ihr ganzes Leben lang mit Belastungen gefüllt haben, ist sehr schwer. Darf ich Ihnen eine Stütze sein beim Tragen?“ frage ich, an ihren Schwindel denkend, und reiche ihr meine Hand. Frau Amann lächelt dankbar und fängt mit sichtbarer Anstrengung an, Stufe um Stufe nach oben zu steigen.
Sie kämpft förmlich, ist schließlich ganz außer Atem, aber sie schafft es. Oben angekommen, kann Frau Amann ihren (imaginierten) Rucksack nicht abnehmen, um sich von seinem Gewicht zu erholen, obwohl er sie nach hinten und unten zieht. Hier oben sei es zu kalt und der Rucksack wärme zumindest den Rücken. Außerdem könne man da nichts machen, dass es nun so sei wie es sei, der Rucksack gehöre nun eben zu ihr.
Frau Amann und ich erkunden im Gespräch, was ihr beim Tragen helfen könnte, und wir beschließen, dass sie vorne einen zweiten Rucksack trägt, um so ein Gegengewicht zur Last nach hinten zu schaffen. Der vordere Rucksack ist randvoll mit positiven Erlebnissen und Erinnerungen und unterliegt nicht der Schwerkraft, sondern zieht nach oben, stärkt und stützt Frau Amann.
Als ich Frau Amann das nächste Mal wieder sehe, ist sie guter Dinge und sehr offen im Gespräch. Sie klagt zwar immer wieder, dass es ihr nicht so gut gehe, aber sie bleibt dieses Mal nicht wie sonst häufig bei ihrer Klage, sondern ist ganz motiviert, die Visualisierung vom letzten Mal wieder aufzugreifen. Auf meine Frage danach, was denn in ihrem schweren Rucksack drinnen sei, beginnt sie aus ihrem Leben zu erzählen. Und während sie mit zunehmender Freude berichtet, schreibe ich mit. Dabei fallen mir Einbußen in Frau Ammans biografischem Gedächtnis auf, die im Laufe des Gespräches weniger werden und beim neuerlichen Besprechen der gleichen Inhalte nicht mehr auftreten, ohne dass ich sie darauf aufmerksam gemacht hätte. Ich frage mich, wann sie das letzte Mal jemandem von ihrem Leben erzählen konnte.
Zu ihrer Mutter fällt Frau Amann nichts Positives ein und sie fängt an sehr detailgenau über schlimme Ereignisse zu sprechen, über Schläge vonseiten ihrer Mutter, ihr heimliches Lesen in der Nacht, da sie untertags helfen musste, obwohl ihr Bruder lesen konnte, wann immer er wollte. Allerdings musste jener dann später an die Front, wie auch ihr Vater, der ihr Ein und Alles gewesen war und den sie im Krieg verlor. An ihn habe sie nur gute Erinnerungen. Er habe beispielsweise immer zur Guten Nacht ein Betthupferl gebracht und sie nie geschlagen, das habe er nicht können. Insgesamt sei der Krieg eine sehr trostlose Zeit gewesen und funktionieren habe man müssen und sich zusammenreißen, wie ihre Mutter es sehr oft von ihr verlangt habe.
Dann kam Frau Amann wieder auf den Rucksack zu sprechen und meinte, sie habe ihn bei sich und sie könne ihn nicht einmal auf die Seite legen. Das könne sie einfach nicht. Es stellt sich heraus, dass der Inhalt des stärkenden Rucksacks, der am Patscherkofel vorne war, nun in den hinteren intergriert wurde. Wir besprechen, dass es völlig in Ordnung ist, den Rucksack bei sich zu haben, da dieser ja auch sehr wertvolle Ereignisse und Erinnerungen enthalte und man ihn daher nicht einfach beiseite stellen könne. Es sei gut, immer wieder die eine oder andere Erinnerung auszupacken, um sie genauer zu betrachten, da sie dann vielleicht besser verstehbar und annehmbar sei. Möglicherweise verliere es dabei jedes Mal auch etwas von seiner Schwere. Und gleichzeitig lenken wir unsere Aufmerksamkeit gezielt auf die schönen Erlebnisse und Erinnerungen, die wir sammeln, um ein deutliches Gegengewicht zur nach unten ziehenden Schwere herzustellen, damit der Rucksack besser tragbar wird.
Eine Woche später sitzt Frau Amann in der Küche, als ich zu ihr komme, und wirkt sehr abwesend und gedrückt. Sie freut sich sehr, mich zu sehen. Sie ist ungewohnt orientierungslos, findet kaum in ihr Zimmer zurück und legt sich im Zimmer gleich auf ihr Bett. Ihr tue alles weh, alles schmerze, sie könne nicht sagen wo, irgendwie sei es auch nicht wirklich ihr Körper, der schmerze, es sei anders; es sei halt so, dass alles zusammen, die ganze Situation schmerzhaft sei. Ihr Magen knurrt laut, sie hört ihn nicht und merkt auch kein Hungergefühl. Frau Amann meint, ich solle bei ihr bleiben, während sie sich nur kurz hinlege, sie sei so müde und erschöpft und schlafe schon fast im Sitzen ein. Sie bleibt lange liegen ohne einzuschlafen und stellt schließlich fest, dass sie einschlafen könne, sie habe nur keine Kraft mehr und wolle einfach nicht mehr. Ich versuche es erneut mit der Rucksackmetapher, auf die sie gleich einsteigt. Frau Amann sagt, der Rucksack sei halt viel zu schwer zu tragen, er drücke sie nieder, sie könne ihn nicht mehr tragen und abnehmen könne sie ihn auch nicht, das lasse sich nicht ändern. Meine Frage nach dem Rucksack mit den guten Erlebnissen, der ihr Kraft gibt aufrecht zu stehen, beantwortet sie damit, jener sei leer. Daraufhin nehme ich die bereits aufgeschriebene Biografie und wir gehen anhand meiner Aufzeichnungen die guten Ereignisse der Vergangenheit durch, die schönen Erinnerungen an ihren Vater beispielsweise. Und schließlich ist es auch möglich, dies ins Hier und Jetzt überzuleiten und auch hier Positives zu finden. Bald ist der „gute Rucksack“ wieder voll und Frau Amann richtet sich im Bett auf und steht auf. Wir besprechen noch die nächsten Tage und als ich mich von ihr verabschiede, begleitet sie mich vor die Türe. Sie bedankt sich sehr herzlich, macht sich aber Sorgen wieder zurückzufinden. Mit einem Finger male ich in ihre Hand den Weg, den sie nun gehen muss. Sie findet ohne Probleme in ihr Zimmer zurück.
[1] Der Name wurde geändert. Das Bild auf dieser Seite steht in keinerlei Zusammenhang mit diesem oder einem der folgenden Texte.
Ein denkwürdiger Silvesterabend, erzählt von Michael Mattersberger
An einem Silvesterabend freuten sich meine Frau, die am Neujahrstag Geburtstag hat, und ich darauf, nach längerer Zeit wieder einmal miteinander auszugehen. Meine Eltern waren da, um bei unseren Kindern zu bleiben, und wir waren gerade im Aufbruch, als das Telefon klingelte, und die Pflege anrief, ich solle bitte schnell kommen, es handle sich um einen Notfall, eine Patientin von mir sei ganz außer sich und randaliere dort.
Ich bat meine Frau, kurz auf mich zu warten, ich sei bestimmt gleich zurück.
Der Anblick, der sich mir im Wohnheim bot, erschreckte mich. Eine Frau mit Demenz und großem psychischen Leid, die ich seit Jahren betreute, hatte eine psychotische Episode. Schon im Gang kam sie mir mit veränderter Stimme, ungewohntem Gangbild und einer hängenden rechten Schulter entgegen und gab seltsame Laute von sich. Die PflegerInnen saßen verängstigt im Dienstzimmer und trauten sich nicht mehr heraus.
Ich ging auf die Patientin zu und nannte sie beim Vornamen. Erst gab sie mir zur Antwort, dass ich ein Hurenbock sei und verschwinden solle, doch mit der Zeit machte sich unsere wirklich gute Beziehung bemerkbar und sie ließ sich dazu bewegen, auf ihrem Platz im Essraum zu sitzen. Sie erzählte mir, welche Personen sie gerade sehe, dass ein Mann auf sie zukomme und sie misshandle, und dann rief sie wieder: „Lass mich los, schau, dass du weiterkommst, verschwind!“ Für mich war deutlich, dass sie halluzinierte, bis ich auf ihren Arm schaute, der sich tatsächlich nach außen drehte, als ob jemand daran ziehen würde. Einen Moment lang erstarrte ich und war mir selbst nicht mehr sicher, ob da nicht eine Geisterhand im Spiel sei. Doch dann betrachtete ich den Arm genauer und erkannte, dass der Oberarm gebrochen war. Die Frau war im Stiegenhaus über die Treppen gestürzt und aufgrund ihrer Schmerzen in einen psychotischen Zustand gefallen. Als mir das klar wurde, verständigten die PflegerInnen und ich sofort die Rettung und die Angehörige, welche mit in die Klinik fuhr.
Etwa gegen 22 Uhr war ich wieder zuhause, ganz mitgenommen von den Ereignissen, und viel zu erschöpft, um ans Ausgehen auch nur zu denken.
Gegen Ende ihres Lebens hatte Hermi immer wieder Wutausbrüche. In diesen Phasen schlug sie andere Heim-
bewohnerInnen und zerstörte Einrichtungsgegenstände, was die Pflegedienstleitung und die Heimleitung schließlich ganz hilflos machte. Oft nahmen sie dann das Telefon zur Hand und riefen mich an, damit ich über den Hörer Hermi beruhige. Gegen Ende ihres Lebens hatte Hermi immer wieder Wutausbrüche. In diesen Phasen schlug sie andere HeimbewohnerInnen und zerstörte Einrichtungsgegenstände, was die Pflegedienstleitung und die Heimleitung
schließlich ganz hilflos machte. Oft nahmen sie dann das Telefon zur Hand und riefen mich an, damit ich über den
Hörer Hermi beruhige. Ich erinnere mich etwa, wie eine Pflegerin, mit der ich ein sehr gutes Einvernehmen hatte, am Telefon zu mir sagte: „Jo, Michl, Michl, hea da des on, hea da des on!“ – und dann hielt sie den Telefonhörer in den Gang, und ich hörte Hermi im Hintergrund ihre Garderobe eintreten und die Heimleitung an ihrer Zimmertür rufen:
„Hermi, Hermi, mach auf!“, während Hermi drin weiter randalierte. Die Pflegerin sprach weiter: „Etz heasch da des
olles amol on, Michl, und wos sollma denn do tuan?“ Ich bat sie, mir Hermi ans Telefon zu holen. „Hermi, da Michl isch am Telefon!“ rief sie laut den Gang entlang. Und kurz darauf war Hermi am Telefon: „Michl, Michl, bisch dus?“ – „Jo, Hermi, wos isch denn los?“ Schweigen. „Hermi, wos ischn los?“ – „Michl, bisch dus?“ – „Jo, Hermi, etz isch guat, hea lei auf wieda.“ – „Jo, kimmsch du n Donnerschtog?“ – „Jo.“ – „Jo pfiati.“ – „Pfiati.“ Und damit war sie wieder beruhigt.
[1] Die Namen wurden geändert.