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Literatur

Gedanken zum Heimaufenthaltsgesetz, zu freiheitseinschränkenden Maßnahmen und zur Arbeit der Gesundheitsschmiede, verfasst von Daniela Siegele

Über Anpassungsschwierigkeiten nach einem Umzug ins Wohnheim und über herausforderndes Verhalten von an Demenz erkrankten Menschen ist in den letzten Jahren häufig in den Medien zu lesen. Meist wird die Frage gestellt, wie Wohnheime für BewohnerInnen, Pflegepersonal und Angehörige eine bestmögliche Betreuung und Begleitung gewährleisten können.

"Demente Menschen bräuchten vor allem persönliche Zuwendung und Orientierung, das sei mit dem aktuellen Personalbudget kaum machbar", schreibt etwa Alexandra Plank in einem Artikel der Tiroler Tageszeitung vom 08.12.2013. Tatsächlich stoßen viele PflegerInnen trotz großem persönlichen Engagement oft vor allem an institutionelle und strukturelle Grenzen, weshalb freiheitseinschränkende Maßnahmen für Betroffene rasch angedacht und umgesetzt werden.

 

In einem Artikel in der Zeitung Der Standard vom 19.11.2014 ("Tabletten gegen die Traurigkeit im Altersheim") wird festgehalten, dass nach einer Stichprobe des Münchner Amtsgerichtes 2011 über 50 Prozent aller Münchener HeimbewohnerInnen Psychopharmaka erhalten haben, obwohl nur ein kleiner Teil der mit solchen Medikamenten behandelten betagten Menschen eine psychiatrische Grunderkrankung aufweise. "Bei einem größeren Teil werden die Tabletten und Spritzen zur Freiheitsbeschränkung eingesetzt", heißt es weiter. Der Leiter der Bewohnervertretung in Tirol und Salzburg, Erich Wahl, wird in diesem Artikel mit der Aussage zitiert, dass es dabei in erster Linie um die Behandlung von Symptomen gehe. "Unruhe, Schlaflosigkeit, Traurigkeit" entstünden, weil viele BewohnerInnen sich im Heim, in der neuen Umgebung nicht zurechtfänden: "Ängste, Verzweiflung, Ärger sind Verhaltensmuster, die im institutionellen Leben mit fixen Essens- und Schlafenszeiten einen Krankheitswert bekommen und mit Psychopharmaka behandelt werden". Und obschon dies eine "schwere Behandlung" sei und dafür die Zustimmung der PatientInnen - oder im Fall von Demenzkranken - der SachwalterInnen nötig sei, werde diese oft nicht eingeholt. (Der Standard, 19.11.2014, S. 12)

Das Heimaufenthaltsgesetz regelt u.a. die Unterbringung von älteren Menschen in Wohnheimen. Im 2. Abschnitt werden die Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Freiheitseinschränkung wie folgt formuliert:

"§ 4. Eine Freiheitsbeschränkung darf nur vorgenommen werden, wenn

1. der Bewohner psychisch krank oder geistig behindert ist und im Zusammenhang damit sein Leben oder seine Gesundheit oder das Leben oder die Gesundheit anderer ernstlich und erheblich gefährdet,

2. sie zur Abwehr dieser Gefahr unerlässlich und geeignet sowie in ihrer Dauer und Intensität im Verhältnis zur Gefahr angemessen ist sowie

3. diese Gefahr nicht durch andere Maßnahmen, insbesondere schonendere Betreuungs- oder Pflegemaßnahmen, abgewendet werden kann."

Im letzten Satz, der leider viel zu oft überlesen wird, eröffnet sich das Arbeitsfeld der Gesundheitsschmiede Tirol. Unser Anliegen ist es, durch individuelle psychologische und soziale Hilfe emotionales Leid älterer Menschen auf schonende Weise zu lindern. Dies geschieht zu einem großen Teil auf der Ebene der persönlichen Beziehung, im psychologischen Gespräch, aber auch in einfachen Maßnahmen der Milieugestaltung.

Drei Beispiele:

* Ein bekanntes Symptom bei Demenzerkrankungen sind Unruhe und Wandertrieb. Die psychosoziale Therapie baut auf dem Verständnis auf, dass der Wandertrieb ein natürliches Verhalten im Gefühl des Verlorenseins und der Hilflosigkeit im kognitiven Abbau ist, eine Suche nach Vertrautem. Auf dieses Bedürfnis kann in der psychosozialen Therapie wertschätzend eingegangen werden, der Wandertrieb wird soweit als möglich liebevoll begleitet und kann dadurch und durch Rückgriff auf verbliebene Ressourcen gelindert werden, sodass er nicht medikamentös unterdrückt werden muss.

* Ebenso kann aggressives Verhalten als Abwehr verstanden werden, zB. wenn einem dementen Menschen eine Pflegehandlung zuviel wird und er oder sie sich nicht auf andere Weise ausdrücken kann. Ein Leitsatz in der Betreuung betagter Menschen kann dabei sein: "Wie würde ich mich an seiner/ihrer Stelle fühlen?" Die Förderung von gegenseitigem Verstehen ist ein zentrales Anliegen unserer Arbeit und kann Konflikte vermeiden.

* Und ein drittes Beispiel: Immer wieder kommt es zu Stürzen aus dem Bett mit teils schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen. Das Anbringen von Bettgittern in der Nacht kann unabdingbar zur Wahrung der körperlichen Unversehrtheit sein. Es lohnt sich allerdings im Sinne einer individuellen Milieugestaltung auch ein Nachfragen, wie das Bett zu Hause ausgerichtet war - manche Stürze lassen sich tatsächlich durch Rücksichtnahme auf die gewohnte Ausstiegsseite verhindern.

Zum Abschluss ein Hinweis auf das Interreg-Projekt "Gewalt im Alter": Auf der Homepage www.gewaltimalter.eu befindet sich u.a. ein e-learning-Kurs (unter "Downloads" und "Schulungen"; Dauer ca. 2 Stunden mit Zertifikat zum Selbstausdrucken nach Absolvierung), in dem auf sehr anschauliche und einfühlsame Weise auf das Tabuthema Gewalt im Alter eingegangen wird. Der Kurs regt zum Reflektieren eigener eingeübter Arbeitsweisen an, sensibilisiert für Gewalt im pflegerischen Alltag und bietet Hilfestellungen zum Verhalten in konkreten Fallbeispielen an.

Nur durch engagierte Zusammenarbeit und eine offene Grundhaltung aller Beteiligten in der Betreuung betagter Menschen kann eine Annäherung an die Vision der Gesundheitsschmiede erreicht werden:

Unser Leitstern ist eine Gesellschaft, die in achtsamer und wertschätzender Weise auf die Bedürfnisse und Inhalte des Menschen im Alter eingeht und die Person in ihrer vielleicht größten Herausforderung des Lebens sieht.

 

Vom Verreisen. Die Symbolsprache Sterbender, Irene Labner

“Vom Verreisen” ist die Abschlussarbeit von Mag.a Irene Labner im Rahmen des Lehrgangs für Lebens-, Sterbe- und Trauerbegleitung 2006/07, eingereicht am Zentrum für Soziale Berufe der Caritas in Innsbruck im Mai 2007. Mag.a Irene Labner ist heute im Einzelhandel tätig und betrachtet ihre Beschäftigung mit dem Thema “Sterben” als besonders wertvolle und prägende Lebenserfahrung.

Einleitung:

"Das letzte wird ein Bild sein, kein Wort. Vor den Bildern sterben die Wörter" meinte Christa Wolf in "Kassandra".[1] 

Ich glaube, dass sich im nahen Angesicht des Todes unsere Wahrnehmung stark verändert. Wenn wir nicht gerade sehr plötzlich aus dem Leben gerissen werden, sondern einen Sterbeprozess durchlaufen, z.B. infolge einer schweren Krankheit, so überschreiten wir an irgendeinem Punkt Schwellen zwischen verschiedenen Wahrnehmungswelten. Diese verschobene Wahrnehmungsqualität mag zwar mitunter auch durch bestimmte, auf das neuronale Netz wirkende Krankheitsbilder und Abbauerscheinungen beeinflusst sein, jedoch bin ich mir persönlich sicher, dass Gründe für diese Verschiebung auch metaphysischer Natur sind.

 

Zeitlebens arbeitet der psychisch einigermaßen stabile Mensch daran, seine Wahrnehmung im Wachzustand konstant zu halten – erst Drogeneinfluss oder psychische Beeinträchtigungen (z.B. durch ein Trauma oder eine psychische Erkrankung) heben die menschliche Wahrnehmung aus den Angeln, ebenso, wie es auch in unseren Träumen geschieht, wenn wir schlafen. Wörter sind in diesen ver-rückten Zuständen meist von geringerer Bedeutung, denn gerade dann, wenn unsere Wahrnehmungskonstanz herabgesetzt ist, gewinnen Bilder an Gewicht.

So stelle ich mir das auch gegen Ende des Sterbeprozesses vor: Bilder werden eindrücklicher als das gesprochene Wort, die Sinnesorgane verändern ihre Frequenzen, es werden Dinge erfahrbar, von denen man zuvor sprichwörtlich höchstens geträumt hat. Dementsprechend verändert sich dann auch sehr häufig der verbale und nonverbale Ausdruck – die Sprache wird bildhafter und symbolschwanger. Wir sprechen von der Symbolsprache der Sterbenden, mit der ich mich in der vorliegenden Arbeit faktisch anhand von Grundlagen aus der themenbezogenen Literatur, aber auch recht persönlich auseinandersetzen möchte.

Fallbeispiel:

Während meines Praktikums im Altenheim hatte ich ein sehr eindrucksvolles Erlebnis, das ich hier gerne vorstellen möchte. 

Herr S., 91 Jahre, war früher Briefträger. Er wohnte schon sehr lange im Altenheim und war aufgrund seiner Altersdemenz und seiner alters- und krankheitsbedingten körperlichen Defizite ein Pflegefall, der auf den Rollstuhl angewiesen war. Aufgrund seiner ständigen Unruhe fällt er häufig aus dem Bett oder aus dem Rollstuhl, was des öfteren zu Verletzungen führt. Zuletzt erlitt er eine Hirnblutung und musste ins Krankenhaus, wo außerdem eine Lungenentzündung festgestellt wurde. Das folgende Gespräche findet etwa eineinhalb Wochen nach seiner Spitalsentlassung statt.

 

Herr S. hatte sich entgegen allen Erwartungen von seinem schweren Schwächezustand nochmals gut erholt. Setting: Nach dem Essen werden alle Heimbewohner zu Bett gebracht. Herr S. sitzt wie üblich unruhig im Rollstuhl und zappelt hin und her. Ich beschließe, mich zu ihm zu setzen um mit ihm zu warten, dass jemand vom Pflegepersonal ihn auf sein Zimmer begleitet. Es war Donnerstag. 

Ich: “Herr S., Sie waren einmal Briefträger, nicht wahr?”

Herr S. prompt: “Nein.” (Er wackelt unruhig im Stuhl umher.)

Herr S: “Wir müssen uns zusammenrichten. Wir fahren ja dann gleich.” 

Ich: “Ja, wohin fahren Sie denn, Herr S.?”

Herr S: “Sagen Sie der Schwester, sie soll packen. Um 5 Uhr geht´s los.”

Ich: “Wohin müssen Sie denn fahren?”

Herr S. schweigt und schaut starr gerade aus. In diesem Augenblick erinnerte ich mich an etwas, das ich über die Sprache Sterbender kürzlich gelesen hatte. Mir schoss der Gedanke, dass das, was Herr S. mir hier mitteilen wollte, möglicherweise ein Hinweis auf sein baldiges Sterben sein könnte. Ich war nun sehr verstört, stand auf und verabschiedete mich.

Ich: “Na gut, ich werde es der Schwester sagen. Auf Wiedersehen, Herr S.. Jetzt kommt gleich jemand, der Sie aufs Zimmer bringt zum Mittagsschlaf.” 

Am darauffolgenden Tag war mein letzter Praktikumstag. Als ich in der Woche darauf, am Mittwoch, einen Besuch im Altenheim machte, berichtete man mir, dass Herr S. zwei Tage zuvor ganz plötzlich in sehr schlechter Verfassung sei. Er sprach vor zwei Tagen zwar noch davon, die Schwester müsse sein Zimmer aufräumen, doch sei er nun wohl schon in der terminalen Phase und liege im Sterben – er war auch nicht mehr ansprechbar. Ich ging daraufhin kurz zu ihm ins Zimmer. Herr S. lag auf dem Bett mit geschlossenen Augen und schien mich nicht mehr zu bemerken. Dennoch gab ich ihm die Hand und verabschiedete mich nochmals. Er verstarb schließlich am selben Abend.

Häufige Motive der Symbolsprache sterbender Menschen: 

Das Reisemotiv ist ein sehr häufiges Symbol der Sprache Sterbender. Obwohl ihr Zustand für jeden Angehörigen, Pflegenden und Begleiter eine Reise sichtlich nicht mehr zulässt, äußern Sterbende plötzlich den Wunsch einen Ausflug anzutreten, sie fordern ein bestimmtes Paar Schuhe oder einen Koffer oder sie wünschen sich alte Fotos von einstigen Urlauben durchzublättern um ihren nächsten Urlaub zu planen. Mitunter nennen sie sogar einen konkreten Reisetermin, der dann nicht selten mit dem Sterbedatum übereinstimmt.[2] Vermutlich ist bei diesen Menschen bereits ein Prozess des Loslassens im Gange, möglicherweise stellen solche Äußerungen, aber auch den Wunsch nach dem “Losgelassen werden” dar. 

 

Oft haben Menschen in dieser letzten Lebensphase noch ein starkes Bedürfnis Dinge zu ordnen – im eingangs geschilderten Fallbeispiel forderte der Sterbende zwei Tage vor seinem Tod die Schwester auf, sie möge doch seine Sachen und sein Zimmer aufräumen. Da die Zimmer der Heimbewohner in dem betreffenden Heim täglich gereinigt und aufgeräumt werden, deutet dieser Wunsch nach Ordnung vermutlich nicht auf äußerliche Umstände seines Zimmers hin, sondern wohl eher auf ein Bedürfnis nach der Ordnung innerer Prozesse, Gedanken oder evtl. unerledigter Angelegenheiten. 

Ein sehr bekanntes Beispiel des Abschiednehmens stammt von Elisabeth Kübler-Ross, die über einen alten Herren berichtet, der ihr seinen Gehstock schenken möchte. Obwohl sie wusste, dass er auf den Stock angewiesen war um zu gehen, nahm sie sein Geschenk an. Als sie kurz aus dem Zimmer ging und anschließend zurückkehrte, war der Mann verstorben. Er brauchte den Stock schlichtweg nicht mehr, weil ihm bewusst war, dass er keine Gänge mehr zu erledigen hatte, und wollte so auf seinen direkt bevorstehenden Tod aufmerksam machen.[3] 

Manchmal möchten Sterbende auch noch einmal nach Hause gehen, obwohl ihnen eigentlich bewusst ist, dass ihr Zustand keinen Transport zulässt oder, obwohl sie wissen, dass ihr Haus bzw. ihre Wohnung schon längst aufgelöst und weitervermietet wurde. Dieser Wunsch nach Hause zu gehen kann nun einerseits tatsächlich das Bedürfnis widerspiegeln noch einmal in den eigenen vier Wänden zu sein, aber es kann auch ein endgültiges “Nachhausekommen” bedeuten.[4] 

Ängste vor ihrem Sterben drücken Betroffene mitunter recht abstrahiert aus. Der Seelsorger Heino Winkler erwähnt das Beispiel[5] einer schwerkranken Patientin, die besorgt ist, dass der Strom in ihrer Wohnung abgestellt ist, wenn man sie am Freitag vielleicht aus dem Spital entließe (was jedoch aufgrund ihres Zustandes ohnehin nicht geplant war), denn sie würde dann im Kalten und Dunklen sitzen. Im Nachhinein erfuhr die Sterbebegleiterin der Patientin, dass die Dame am Freitag verstarb. Mit dem “Kalten und Dunklen” sprach die Patientin wahrscheinlich ihre Angst davor aus, wie es nach dem Tode sein könnte. Ein ähnliches Gespräch widerfuhr laut Winklers Schilderungen einer Krankenschwester, die eine 84-jährige Dame betreute, welche zu ihr sagte, dass etwas Kaltes und Dunkles in ihr aufsteige, dass sie aber keine Angst davor hätte, denn die schwarzbemäntelte Mutter mit den schwarzen Schuhen sei ja bei ihr.[6] Man fragt sich nun: wer ist diese Mutter mit den schwarzen Schuhen?

Die Mutter, die uns einst im Mutterleib Geborgenheit und Urvertrauen gab, tritt hier im Trauerschwarz in Erscheinung. Trotz ihrer düsteren Erscheinung scheint sie der Sterbenden Halt und Mut zu vermitteln. Ob die Gestalt hier tatsächlich in Form der eigenen Mutter auftritt oder als Archetyp, der an eine Mutter erinnert, können wir hier nicht nachvollziehen – die Essenz ist jedoch dieselbe: sowohl die eigene Mutter, als auch ein Archetyp sprechen beim Sterbenden wohl ganz frühe emotionale Erinnerungen an, vielleicht gar Erinnerungen des Einsseins und der Geborgenheit im Mutterleib. 

Sterbende haben öfter visuelle Eindrücke, die wir als Angehörige oder Begleiter nicht teilen können. Trotzdem sollten wir ihren Berichten und Erzählungen über solche Visionen mit Respekt begegnen und sie nicht als Einbildung abtun, da wir uns auf einer gänzlich anderen Wahrnehmungsebene als der Betroffene befinden.

Ein Mann schildert in einem Internetforum, dass seine Ehefrau Zungenkrebs im Endstadium hat und gerade eine letzte Strahlentherapie hinter sich hat. Er ist verzweifelt, weil seine Gattin Personen im Raum wahrnimmt, mit ihnen spricht, und sie sogar durch die Wand hindurch im benachbarten Badezimmer sehen kann. Sie sieht außerdem Landschaften und Tiere. Der Gatte führt diese vermeintlichen Halluzinationen auf die Strahlentherapie zurück und lässt seine Frau nochmals in der Klinik behandeln und mit Frischblut versorgen. Daraufhin verstummen die Bilder, die seine Frau wahrnimmt, jedoch nur für ca. drei Tage. Die Visionen kommen wieder und etwa eine Woche später berichtet der Mann: 

“...Meine Frau ist am Sonntagnacht in Ruhe und Frieden entschlafen. Ich durfte erkennen, daß das was ich für Trugbilder hielt, eine Realität ist, wofür einzig allein meine Augen nicht ausgestattet waren. Meine Maus konnte mir noch helfen, durch ihre Aussagen in den letzten Stunden, dies alles so gut wie möglich zu verstehen. In dieser Zeit erkannte ich, welch Irrtum ich hier aufsaß, als ich dachte, dass die Seite die ich als Wirklichkeit wahrnehme, das einzig Wahre ist....”[7] 

Weitere Symbole, die ebenfalls im Dialog mit Sterbenden auftauchen können, sind z.B. das Überwinden eines Flusses, eines Grabens oder das Erklettern eines Berges. Ursula Pfefferle zitiert ein Beispiel von Otterstedt (2001): Ein alter, kranker Herr erzählt seiner Nichte, er habe in der letzten Nacht versucht einen Fluß zu überwinden. Seine Nichte dachte zuerst er habe einen nächtlichen Ausflug unternommen. Dann meinte ihr Onkel, dass er gerufen wurde, aber am Fluß sei keine Brücke gewesen. Deshalb wolle er in der nächsten Nacht noch einmal nach einer Brücke Ausschau halten. Daraufhin verstand die Nichte und blieb bei ihrem Onkel, der am nächsten Morgen verstarb.[8] 

Nicht nur Erwachsene, sondern auch schwerkranke Kinder können ihren nahenden Tod erahnen und teilen dieses Wissen in ihrer ganz eigenen Symbolsprache mit. Elisabeth Kübler- Ross meint, dass bereits Drei- bis Vierjährige über ihren Tod sprechen können oder sich in Bildern und Zeichnungen darüber äußern.[9] So meint ein kleines Mädchen etwa, dass sie bald mit den Schmetterlingen mitfliegen würde, denn die bringen sie in den Himmel. Ein achtjähriger Junge drückte seine Todesahnung hingegen lieber in einer Zeichnung aus – sie zeigte einen Baum, an dem nur mehr ein Blatt hing und an dessen Stamm ein Käfer ein scheußliches Loch hineingefressen hatte. Der Junge hatte Krebs an seinem Schenkel und verstarb schließlich auch an dieser schweren Erkrankung.[10] 

Eine Untersuchung von Annette Niebers zeigte, dass 86% aller Eltern, die ein schwerstkrankes Kind begleiten oder bis zum Tod begleitet hatten, sicher sind, dass ihre Kinder ahnen bzw. geahnt haben, dass sie bald sterben würden.[11] 

Elisabeth Kübler-Ross versuchte die Symbolsprache von sterbenden Kindern insbesondere anhand von Zeichnungen zu ergründen, da jüngere Kinder sich eher einer sehr nonverbal geprägten Symbolsprache bedienen.[12]  


[3] KÜBLER-ROSS Elisabeth, Verstehen, was Sterbende sagen wollen . Einführung in ihre symbolische Sprache, Ersterscheinung 1981, Neuauflage . München 2004, 33-35.

[4] GABRIEL Beate, Sterbende verstehen lernen, online nachgeschlagen am 5.Mai 2007 unter:

http://www.beategabriele-plus.de/sterben/sterbend/verstehe.html

[5] Vgl. WINKLER, ebenda, 5-6.

[6] Vgl. WINKLER, ebenda 4.#

[7] Internetforum .Augenblicke zwischen Leben und Tod., Eintrag vom 17.04.2007 (Anmerkung: Tippfehler korrigiert): http://www.augenblicke-zwischen-leben-und-tod.de/t4694f56-Ratlos.html

[8] PFEFFERLE Ursula, .Behutsam will ich dir begegnen. - Musiktherapie im Hospiz, Diplomarbeit, Münster 2003, 28.

[9] KÜBLER-ROSS Elisabeth, ebenda, 68ff.

[10] GABRIEL Beate, ebenda.

[11] NIEBERS Annette, Eltern begleiten ihre sterbenden Kinder . Erfahrungen und Folgerungen, Dissertation, Hamburg 2006, 141.

[12] KÜBLER-ROSS Elisabth, ebenda, 68ff.

Konsequenzen für den Dialog mit sterbenden Menschen:

Wenn ein sehr betagter Mensch, der kurz vor dem Sterben steht, in seiner Symbolsprache Dinge sagt, die uns unsinnig erscheinen, so lässt man sich leider nicht selten dazu hinreißen, diese Person als verwirrt, dement oder gar verrückt abzustempeln. Bei einem jüngeren, schwerstkranken Patienten mag man die oft seltsam anmutenden Äußerungen vielleicht auch als Nebenwirkung der Medikamente abtun und, wenn wir von schwerkranken Kindern in ihrer ganz eigenen Ausdrucksweise auf ihren Tod und ihre Wahrnehmungen hingewiesen werden, dann könnte es sein, dass wir uns Ausflüchte suchen um dieses heikle Thema zu umgehen. Solche Reaktionen sollten wir vermeiden, wenn wir sterbende Menschen begleiten, aber das ist nicht immer einfach. 

 

Elisabeth-Kübler Ross weist darauf hin, dass schwerkranke und sterbende Menschen sich ja nicht immer alle in demselben Stadium der Bewusstheit und Akzeptanz ihrer Erkrankung gegenüber befinden. Wir kennen ja die von ihr postulierten .”Sterbephasen”[13]

1. Das Nicht-Wahrhaben-Wollen/ Verleugnung 

2. Phase der Auflehnung/Warum-ich?/Aggression 

3. Verhandeln um das Überleben 

4. Depression 

5. Zustimmung/Akzeptanz 

Je nachdem, in welcher dieser Phasen sich ein schwerkranker Mensch gerade befindet, so gestaltet sich der Dialog zwischen ihm und seinem Begleiter auch unterschiedlich. Manchmal verharren Sterbende auch in einem Zustand des Verleugnens bis zu ihrem Ende. Gerade, was dieses Leugnen anlangt, so gibt es nach Frau Kübler-Ross folgende Möglichkeiten, wie man als Begleiter vorgehen kann[14]

Man muß feststellen, ob es sich um ein Problem von einem selbst, oder, ob es sich um ein Problem des Patienten handelt. Es könnte nämlich passieren, dass wir meinen, der Patient verleugne seinen Gesundheitszustand noch, dabei verhält es sich eigentlich so, dass der Patient glaubt, dass wir als Begleiter oder Angehöriger nicht über seinen Zustand sprechen können. Wir müssen uns selbst immer gut beobachten – betreten wir das Krankenzimmer und beginnen möglicherweise eine banale Unterhaltung über das Wetter oder das Essen, so verschwört man sich mit dem Patienten im Schweigen. Hier müssen wir sehr achtsam sein und uns selbst auch fragen, ob wir wirklich fähig sind über das Sterben zu sprechen. Ist man sich jedoch sicher, dass man nicht selbst dem Leugnen unterliegt, sondern, dass das Leugnen auf Seiten des Patienten stattfindet, so empfiehlt Elisabeth Kübler-Ross, dem Patienten gegenüber eine Einladung auszusprechen: wenn er soweit ist, dass er irgendwann über seine schwere Erkrankung und über das Sterben sprechen möchte, so kann er das Gesprächsangebot einlösen. Sie meint, ein Patient, der das Leugnen aufgibt, wird sich an diese Bemerkung erinnern. 

Manchmal geben Menschen, wie bereits erwähnt, das Leugnen bis zum Schluss nicht auf – wir, die wir Sterbende begleiten, sollten auch das aushalten können. 

In ihrem Buch “Verstehen, was Sterbende sagen wollen” berichtet Kübler-Ross von einer sehr einsamen Patientin, die bei einem Besuch davon zu sprechen begann, wie schön doch die Blumen wären, die in ihrem Zimmer stünden. Es waren jedoch keine Blumen im Raum. In diesem Fall deutete die Autorin diese Aussage als starken Wunsch nach Liebe und Zuwendung seitens ihres Mannes, der sie nicht mehr besuchen wollte, und sie meint, dass es falsch gewesen wäre, auf der Abwesenheit der Blumen zu bestehen, aber es wäre auch falsch gewesen, so zu tun, als wären Blumen da.[15] Als Begleiter eines Sterbenden ist es nicht unsere Aufgabe, die Realität für den Sterbenden zurechtzurücken und seine Wahrnehmung und Sprache “geradezubiegen”, und genau so wenig sollten wir ihn komplett desillusionieren. Unsere Aufgabe kann jedoch auch das “Einfach-nur-da-sein” darstellen, ebenso, wie es Elisabeth Kübler-Ross im geschilderten Fallbeispiel tat. Sie blieb einfach nur da und hielt die Hand der Patientin. Irgendwann meinte diese dann: wenn ihre Hände immer kälter werden, dann hoffe sie, dass sie auch so warme Hände bekäme wie Frau Kübler-Ross. Genau mit dieser scheinbar paradoxen Aussage sprach die Patientin schließlich das erste Mal das Sterben an, ohne jedoch ihre Verleugnung komplett aufzugeben. 

Für viele Sterbende ist die Symbolsprache die einzige Möglichkeit das Sterben anzusprechen – manchmal um Angehörige oder Begleiter nicht zu belasten, manchmal jedoch, um das Leugnen als eine Form der Abwehr und des Selbstschutzes nicht ganz aufgeben zu müssen. 

Schwerkranke Menschen, die sich gerade in der Phase der Auflehnung und der Aggression befinden, sind mitunter recht schwierig im Umgang, weil sie auch in uns Angehörigen, Pflegern oder Begleitern Aggression wecken können. Wir können ihre Fragen nach dem “Warum ich?” oder “Warum jetzt?” nicht beantworten – wir können aber da sein und ihnen helfen, ihrem Zorn und ihrer Wut Ausdruck zu geben ohne über sie zu urteilen.[16 

In der Phase des Verhandelns versuchen viele Schwerkranke mit Gott, mit den Ärzten, Pflegern, Begleitern oder Angehörigen noch gewisse Anliegen auszuhandeln. Auf die Dinge, die sie sich von Gott noch erbeten, haben wir in unserer begleitenden Funktion nicht wirklich Einfluß. Auch in dieser Phase sollte es unsere größte Aufgabe sein, ihnen Gehör zu schenken ohne in Aktionismus zu verfallen. Kleinere Wünsche, wie z.B. noch einen Ausflug zu unternehmen oder das Bedürfnis zwischen dem Patienten und seinen Angehörigen zu vermitteln, können wir vielleicht erfüllen. Wenn es uns allerdings nicht möglich ist, z.B. einen Angehörigen zu einer Aussprache zu ermutigen, dann können wir, meiner Ansicht nach, höchstens versuchen mit dem schwerkranken Patienten eine alternative Lösung zu finden. Ich stelle mir gerade die Frage, was man tun kann bzw. soll, wenn ein Sterbender Zeit auszuhandeln versucht, z.B. eine schwerstkranke Mutter, die unbedingt noch den nächsten Geburtstag ihrer Tochter erleben möchte, obwohl die Chancen dafür schlecht stehen. Ich glaube, hier ist Zurückhaltung angebracht . wie bereits in einem vorangegangenen Absatz angesprochen, es ist nicht Aufgabe des Sterbebegleiters den sterbenden Menschen zu desillusionieren oder ihm gar Hoffnungen einzureden, die wir ihm ohnehin nicht garantieren können. Wir sollten dem Sterbenden dort begegnen, wo er sich gerade befindet, d.h. wenn er noch so stark mit seiner Krankheit ringt, so müssen wir das akzeptieren und ihm auch dabei zur Seite stehen. Erst, wenn wir Zeichen der Annahme seiner Krankheit beim Betroffenen erkennen, dann müssen und können wir mit ihm den nächsten Schritt wagen. Vielleicht ist es nur eine Frage des “Sich-bereit-haltens” für das, was kommt, damit man dem Sterbenden, wenn er es dann wünscht, auch im Gespräch über seinen Tod begegnen kann. 

Wenn der Betroffene schließlich beginnt seine schwere Krankheit und sein Sterben als Tatsache zu erleben, so verfällt er meist in ein tiefes Loch der Depression. Auch hier ist das Sprechen über das Unvermeidliche nicht leicht, gerade für Menschen, die es gewohnt waren immer stark und mutig zu sein. Elisabeth Kübler-Ross merkt an, wie schwer es sein kann diese Trauer mit dem Sterbenden zu durchleben. Es kann passieren, dass wir peinlich berührt sind, wenn der Sterbende unvermutet vor uns zu weinen beginnt. Wir dürfen dann nicht sagen: “Kopf hoch!”, denn damit würden wir die Trauer des Sterbenden abwerten.[17] In solch einer Situation müssen wir dem Sterbenden erlauben seine Trauer auszuleben und wir können diejenigen, die nach wie vor versuchen ihre Fassade zu wahren, auch behutsam ermutigen zu trauern. Auch starke und mutige Menschen dürfen weinen. 

Die letzte der Trauerphasen betrifft das Annehmen und die Zustimmung zur Krankheit und zum Sterben, wobei es unterschiedliche Ausprägungen in diesem Stadium gibt. Nicht allen gelingt es, im Stadium des Annehmens ihre verbleibende Lebenszeit noch qualitativ wertvoll zu leben. Viele resignieren einfach und verbringen ihre letzte Zeit in Bitterkeit. Vielleicht gelingt es uns als Begleiter einem solchen Menschen, der resigniert hat, noch ein kleines Quäntchen an Lebensqualität zu spenden – zu Zustimmung zu seiner Situation können wir ihn nicht drängen, aber wenn wir in unseren Gesprächen das eine oder andere herausfiltern können, was dem Sterbenden noch Freude bereitet oder, was er als angenehm empfindet, so haben wir schon etwas Hilfreiches getan. 

Und selbst, wenn wir nichts tun, so bewirken wir möglicherweise trotzdem etwas. Es kann durchaus sein, dass ein solcher Mensch zwar keine kleinen Freuden mehr annehmen möchte, dennoch will er vielleicht nicht alleine sein – und in diesem Falle können wir einfach nur da sein und etwas bewirken ohne gezielt und aktiv etwas zu tun. 

Wir müssen die Symbolsprache nicht selbst fließend sprechen, wenn wir einen Sterbenden begleiten, aber, wenn es uns gelingt, sie verstehen zu lernen, so passiert auch bei uns in unserer Funktion als Begleiter etwas. Wir können uns dann öffnen und uns besser auf eine ehrliche und wahrhafte Kommunikation mit dem Gegenüber einlassen. Ich bin überzeugt, dass die essentiellen Werkzeuge um Symbolsprache verstehen zu lernen, folgende sind: 

- Respekt vor dem Gegenüber, seiner Wahrnehmung und seiner Ausdrucksweise. 

- Toleranz, wenn jemand noch nicht bereit ist zum offenen Gespräch. Oft kann man auch zwischen den Zeilen lesen, was mehr oder weniger bewusst im Sterbenden “arbeitet”. 

- In-sich-Hineinhören. Wenn ein Sterbender uns gegenüber sehr verwirrend und bildhaft spricht: welche Emotionen und Gedanken kommen in uns hoch, wenn wir versuchen diese Bilder zu visualisieren. Was lösen solche Bilder und Symbole in uns aus, welche Wünsche steigen hoch? 

- Behutsames Abwägen der jeweiligen Situation: Wann muss ich Dinge wirklich ernsthaft beim Namen nennen und wann sollte ich etwas Zurückhaltung wahren. 

Ich denke, es gibt kein Patentrezept, wie man Symbolsprache am besten verstehen lernt. Vielleicht braucht es dazu auch viel Erfahrung im Umgang mit sterbenden Menschen. Für mich persönlich halte ich es für essentiell, dass ich mir immer vor Augen halte, dass Sterbende einen Prozess durchlaufen, den ich nicht aus persönlicher Erfahrung kenne. Ich gehe daher davon aus, dass sie unter Umständen eine andere Selbst-, Fremd- und Umweltwahrnehmung haben als ich, und davor versuche ich größten Respekt zu haben. 
 

[13] Wikipedia (Onlinelexikon), Die Sterbephasen nach Kübler-Ross, online nachgeschlagen am 7.Mai 2007 unter:

http://www.pflegewiki.de/wiki/Sterbephasen_nach_K%C3%BCbler_Ross

[14] KÜBLER-ROSS Elisabeth, ebenda, 35ff.

[15] KÜBLER-ROSS, ebenda, 38-44.

[16] KÜBLER-ROSS, ebenda, 53.

[17] KÜBLER-ROSS Elisabeth, ebenda, 59ff

[1] WOLF Christa, Kassandera (Erzählung), 5. Auflage, Luchterhand, Berlin, 1987, S. 26.

[2] Vgl. WINKLER Heino, Vortragsmanuskript: .Die Sprache der Sterbenden., nachgeschlagen am 29.April 2007, online unter: http://www.seelsorgepfarrerwinkler.de/4zu%20Angeboten/AKHS/Vortr%E4ge/02Sprache-Sterbende.pdf, 6.